BauSV 4/2022


Regelwerke

Zu viele Normen oder eine Norm zu wenig
Abb. 3: Nirgends 12 cm Stababstand, Architekten Sanaa (Foto: S. Sage)

Sebastian Sage


Zu viele Normen oder eine Norm zu wenig


In einem Kindergarten hat sich ein Kind in einer Umwehrung oder Absturzsicherung, umgangssprachlich einem Geländer, stranguliert. Das Bauteil bestand aus Holzwerkstoffplatten, die zu floralen Freiformen zugeschnitten waren. Es war 1 m hoch und alle senkrechten Öffnungen waren nicht breiter als 12 cm, zum Übersteigen geeignete waagerechte Öffnungen nicht höher als 2 cm.

Die Anforderungen der sechzehn Landesbauordnungen und ihrer Ausführungsverordnungen an Bauteile neben einer Absturzhöhe von mehr als 1 m (außer 0,5 m in Bayern [1]) waren erfüllt. Die Belastung mit der seitlichen Holmkraft nach DIN EN 1991-1-1 [2] war berücksichtigt. Die Einhaltung der Regelwerke hat das Unglück nicht verhindert. Braucht es also mehr Regeln?


Ist es folglich richtig und notwendig, dass neben den Bauordnungen und ihren Ausführungsverordnungen zahlreiche Regelwerke für Arbeitsstätten, Schulen, Kindergärten, Versammlungsstätten und so weiter zusätzliche Anforderungen an Umwehrungen formulieren?

Nach einem solchen Unglück verstummen die Fragen sich volksnah gebender Politiker, ob nicht weniger Baunormen das Bauen vereinfachen könnten, mehr Wohnungen ermöglichen, Arbeit und Wohlstand schaffen und Politikverdrossenheit mindern würden und so weiter.

Arbeitsgruppen werden gegründet, dicke Papiere veröffentlicht, die Liste der Vorschläge bleibt vage. Vielleicht gibt es gar nicht zu viele Baunormen, sondern nur die falschen?


Begriffe

Zunächst sind nicht einmal die Begriffe einheitlich. Unterschieden werden Brüstungen, Absturzsicherungen, Umwehrungen und Geländer. Umwehrungen werden in den Bauordnungen als eigenständige Bauteile beschrieben. Zum Beispiel – weil der Verfasser dort wohnt – in § 16 Abs. 2 LBO Baden-Württemberg [3]: »Umwehrungen müssen so beschaffen und angeordnet sein, dass sie Abstürze verhindern und das Überklettern erschweren«.

Die dazugehörige Ausführungsverordnung § 3 LBOAVO [4] nennt den Gegenstand »Brüstung«: »Flächen in, an und auf baulichen Anlagen, die im Allgemeinen zum Begehen bestimmt sind […] sind zu umwehren oder mit Brüstungen zu versehen«. Die »zum Begehen bestimmte Fläche« ist in Sachsen rechtlich beschrieben.

Die LBOAVO in Baden-Württemberg bezieht auch die freien Seiten von Treppenläufen, Treppenabsätzen und Treppenöffnungen (Treppenaugen) in ihre Regelungen ein, ohne diese »Treppengeländer« zu nennen. Treppengeländer sind abweichend und zusätzlich in der als Bauvorschrift eingeführten Norm DIN 18065 [5] geregelt, selbstverständlich mit einem leicht abweichenden Einführungserlass für fast jedes der 16 Bundesländer.

Was die Frage nicht beantwortet, wo ein Treppenpodest mit Geländer in einen Gang mit Umwehrung übergeht. Der Handlauf an der Treppe hat sich rechtlich so weit vom Geländer abgelöst, dass er ein rechtliches Eigenleben führt mit anderen Höhen, anderen Längen und anderen seitlichen Abständen als das Geländer.

Die Absturzsicherung ist eine zusätzliche Eigenschaft eines sonst ganz anders definierten Bauteils, zum Beispiel eines Fensters. Im Arbeitsschutz [6] steht die Umwehrung, z.B. Brüstung, Geländer, Gitter oder Seitenschutz, neben anderen Arten der Absturzsicherung wie Fußleisten, Knieleisten, persönliche Schutzgeschirre und Auffangnetze. Das umgangssprachliche Balkongeländer kommt in den Regelwerken nicht zum Zuge.


Höhe

Die Höhe des Bauteils von 0,9 m (LBOAVO) bleibt in den Bauordnungen konstant, in Arbeitsstätten beträgt sie 1,00 m [6] und in Kindergärten 1,0 m [7], in Schulen [8] und Versammlungsstätten [9] und in einigen Bundesländern gilt bei Absturzhöhen ab 12 m eine Höhe von 1,10 m. Die Erfüllung der zusätzlichen Anforderungen des Bundesverbands der Unfallkassen e.V. für Kindergärten hat das Unglück nicht verhindert.

Fensterbrüstungen dürfen 0,8 m hoch sein, wenn die Tiefe der Brüstung mindestens 0,2 m beträgt. Ein alter Zopf aus einer Zeit, als der Blockrahmen des Fensters noch nicht als Teil der Umwehrung betrachtet wurde, führt mancherorts zu skurrilen Auslegungen bei gekröpften Stahlgeländern.

Die Hälfte der Männer in Deutschland – was zur Aktualisierung der Konfektionsgrößen regelmäßig vermessen wird – ist größer als 1,80 m. Ein 90 cm hohes Geländer wird sie im Falle von Ohnmacht oder Trunkenheit nicht zuverlässig sichern, was viele Planer bereits berücksichtigen. 90 cm hohe Geländer sind nicht mehr hoch genug.


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