Innovation bedeutet, zeitgemäße technische Regelwerke zu verwenden
Zusammenfassung
Es ist es an der Zeit, sich von der gesetzlichen Verankerung des 1871 entwickelten Prinzips des Bauens nach allgemein anerkannten Regeln der Technik zu verabschieden. Tatsächlich wird aufgrund gesetzlicher Anforderungen weitgehend nicht erfahrungsbasiert, sondern nach dem Stand der Technik gebaut. In der Rechtsprechung ist zudem vielfach der Ansatz verbreitetet, wonach auch aktuelle technische Regelwerke als anerkannte Regeln der Technik gelten. Daher wird auch werkvertraglich faktisch auf den Stand der Technik abgestellt, der sich in der Praxis noch nicht bewährt hat.
In einer Zeit, in der aus Kostengründen und unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit mehr Innovation und baulicher Fortschritt erforderlich sind, ist daher nicht erklärlich, warum die Fiktion eines Bauens nach anerkannten Regeln der Technik werkvertraglich weiterhin aufrechterhalten wird. Die Befürchtung, dass durch eine Neuausrichtung vor allem Verbraucherrechte beeinträchtigt werden könnten, ist unbegründet. Der gesetzlich festgeschriebene Standard, zum Beispiel der Sicherheit und des Energiestandards, bleibt unberührt.
Anerkannte Regeln der Technik umfassen ohnehin nur sicherheitsrelevante Regelungen. Technische Qualitäten, Ausstattung und Komfortmerkmale sind aufgrund der Tatsache, dass im Zweifel werkvertraglich ohnehin das Übliche geschuldet ist, durch Planer und Bauunternehmen auch nicht einfach absenkbar. Künftig sollte daher das technisch und wirtschaftlich im Einzelfall Gebotene geplant und errichtet werden und nicht das, was Juristen sich unter anerkannten Regeln der Technik vorstellen.
1 Anerkannte Regeln der Technik
Der Begriff der »anerkannten Regeln der Technik« ist gesetzlich nicht normiert. Gleichwohl ist der Begriff seit einer (strafrechtlichen) Entscheidung des Reichsgerichts [1] zu § 330 StGB i.d.F. vom 15. Mai 1871 (Strafbarkeit der Verletzung der allgemein anerkannten Regeln der Baukunst) im Zivilrecht unstrittig und wird von der Rechtsordnung einschließlich des Gesetzgebers als allgemein bekannt vorausgesetzt [2].
Nach dieser Definition sind anerkannte Regeln der Technik bautechnische Anforderungen
- an die tatsächliche Ausführung baulicher Anlagen,
- die in der Wissenschaft als theoretisch richtig anerkannt werden und
- die sich in der Baupraxis überwiegend als technisch geeignet bewährt und durchgesetzt haben.
Mit anderen Worten die Gesamtheit der in der Baupraxis bewährten Konstruktionsgrundsätze, die die große Mehrheit der maßgebenden Fachkreise als richtig ansieht und praktisch nutzt.
Die anerkannten Regeln der Technik sind von dem Stand der Technik (Wirksamkeit fortschrittlicher vergleichbarer Verfahren in der Betriebspraxis nachgewiesen, aber noch nicht über längere Zeit in der Praxis bewährt) und dem Stand von Wissenschaft und Technik (neueste wissenschaftliche Erkenntnisse) abzugrenzen.
Diese »Dreiteilung« geht im Wesentlichen auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts [3] zurück, in der sich dieses mit der erforderlichen Sicherheit bei Atomkraftwerken befasste. In dem Beschluss führte das Bundesverfassungsgericht aus:
»Will der Gesetzgeber die Möglichkeit künftiger Schäden durch die Errichtung oder den Betrieb einer Anlage oder durch ein technisches Verfahren abschätzen, ist er weitgehend auf Schlüsse aus der Beobachtung vergangener tatsächlicher Geschehnisse auf die relative Häufigkeit des Eintritts und den gleichartigen Verlauf gleichartiger Geschehnisse in der Zukunft angewiesen; fehlt eine hinreichende Erfahrungsgrundlage hierfür, muss er sich auf Schlüsse aus simulierten Verläufen beschränken. Erfahrungswissen dieser Art, selbst wenn es sich zur Form des naturwissenschaftlichen Gesetzes verdichtet hat, ist, solange menschliche Erfahrung nicht abgeschlossen ist, immer nur Annäherungswissen, das nicht volle Gewissheit vermittelt, sondern durch jede neue Erfahrung korrigierbar ist und sich insofern immer nur auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums befindet.«
Anerkannte Regeln der Technik sind daher technisches Wissen, bei dem die Prognose des Gelingens nicht mehr simulations-, sondern erfahrungsbasiert ist. Simulationsbasiertes Wissen kann daher gegenüber erfahrungsbasiertem Wissen, das sich bereits in der Praxis bewährt hat, tatsächlich und rechtlich nicht gleichwertig sein.
Der Wert »erfahrungsbasierten« Bauens liegt auf der Hand. Denn die dauerhafte Zuverlässigkeit von Bauwerken ist wichtig, weil Bauwerke ihrem Verwendungszweck entsprechend über längere Zeit sicher genutzt werden sollen. Die Anwendung technischer Regelwerke, die sich bewährt haben, bietet aber ein hohes Maß der Bauwerkssicherheit und reduziert die Wahrscheinlichkeit des Bauwerksversagens. Das gilt umso mehr, als derartige technische Regelwerke für die gesamte Wertschöpfungskette, d.h. für die Planung, für Bauprodukte und für die Bauausführung, im Prinzip verfügbar sind.
2 Technische Regelwerke
Technische Regelwerke, insbesondere in Form von Normen, beinhalten Lösungsvorschläge für technische Sachverhalte. Die Anwendung dieser Regelwerke ist grundsätzlich freiwillig. Denn die privaten Normungsorganisationen haben keinerlei Rechtsetzungsbefugnis, auch wenn sie auf gemeinnütziger Basis tätig werden [4].
Technische Regelwerke, insbesondere technische Normen, sollen nach den allgemeinen Normungsgrundsätzen, insbesondere der DIN 820, gleichwohl einen Nutzen für die Allgemeinheit i.S.e. objektiven Mehrwerts haben und öffentliche Interessen, z.B. die Anforderungen der Nachhaltigkeit, berücksichtigen. Dies erfordert eine angemessene Beteiligung der von einer Anwendung des technischen Regelwerks betroffenen interessierten Kreise.
Zudem ist ein technisches Regelwerk nur dann von allgemeinem Nutzen, wenn die praktische Notwendigkeit (Relevanz) und der wirtschaftliche und technische Aufwand, der durch ihre Anwendung verursacht wird, berücksichtigt werden. Denn technische Regelwerke sollen durch Standardisierung auch zur kostengünstigen Lösung eines technischen Problems beitragen.
Diese Eigenschaften ermöglichen grundsätzlich auch eine rechtliche Inbezugnahme des Gesetzgebers. Denn dieser erspart sich die Mühe, zur Konkretisierung von gesetzlichen Sicherheitsanforderungen eigene technische Regelungen entwerfen zu müssen. Stattdessen kann er technische Regelwerke in rechtlichen Regelungen, insbesondere normenkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, in Bezug nehmen und damit rechtlich verbindlich machen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Verträge zu sehen, die sowohl der Bund als auch die Länder mit dem DIN abgeschlossen haben und die eine verpflichtende Anwendung der Normungsgrundsätze durch das DIN beinhalten.
Die interessierten Kreise, die die Normung vorantreiben, sind in der Regel auch schneller, flexibler und zumindest in einigen Fällen sachkundiger als staatliche Institutionen. Es ist daher zweckmäßig, dass der Staat sich die Normung privatrechtlicher Organisationen zunutze macht und neue Erkenntnisse damit schnell übernehmen kann. Dabei spielt die Frage, ob es sich bei diesen Regelungen bereits um anerkannte Regeln der Technik handelt, grundsätzlich keine Rolle [5].
Insbesondere im Bauordnungsrecht werden abstrakte gesetzliche Regelungen, die technische Fragestellungen betreffen (z.B. Standsicherheit und Brandschutz), in Form der sog. Technischen Baubestimmungen, die auf technische Regelwerke Bezug nehmen, konkretisiert [6]. Das Prinzip findet aber auch darüber hinaus vielfache Anwendung, z.B. in § 7 Gebäudeenergiegesetz (GEG) oder in § 49 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG).
Durch die Inbezugnahme wird aber keine technische Lösung in Stein gemeißelt. Vielmehr bietet das öffentliche Recht in der Regel Abweichungsmöglichkeiten. Danach kann der Bauherr immer auch alternative technische Lösungsmöglichkeiten nutzen, wenn dadurch die allgemeinen gesetzlichen Schutzziele des Gesetzes in gleicher Weise erreicht werden.
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