Unser Beirat Dr. Mark Seibel stellt in diesem Beitrag ausführlich die Bedeutung von technischen Regelwerken (DIN-Normen etc.) für die Beurteilung der Mangelhaftigkeit einer Bauleistung aus richterlicher Sicht dar. Er wird zu diesem Thema auch auf unserer 10. Fachtagung »Der Bausachverständige« am 17.03.2022 referieren.
I. Einleitung
Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Bauleistung mangelhaft ist, bestehen bei allen Beteiligten – seien es Richter, Rechtsanwälte, Sachverständige, Bauunternehmer oder Bauherren – oft große Unsicherheiten. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass eine bauvertragliche Leistungspflicht häufig technisch geprägt ist. Im Rahmen der rechtlichen Mangelbeurteilung werden in den allermeisten Fällen technische Standards und technische Regelwerke (DIN-Normen etc.) relevant. Der Rechtscharakter und die (rechtliche) Wirkungsweise solcher technischen Regelwerke werden jedoch häufig missverstanden.
Um zu beantworten, inwiefern technische Regelwerke bei der Beurteilung der Mangelhaftigkeit einer Bauleistung relevant werden, muss zunächst geklärt werden, welche Leistung der Bauunternehmer nach dem Werkvertrag zu erbringen hat. Ob ein Gewerk mangelfrei ist, richtet sich – sofern zwischen den Vertragsparteien nichts anderes vereinbart wurde – nach dem Leitbild der §§ 631 ff. BGB (BGB-Werkvertrag) bzw. § 13 Abs. 1 VOB/B (VOB-Werkvertrag).
- Zunächst hat der Werkunternehmer nach § 633 Abs. 2 BGB dafür einzustehen, dass sein Gewerk die vertraglich vereinbarte Beschaffenheit aufweist (§ 633 Abs. 2 Satz 1 BGB – 1. Sachmangelvariante).
- Soweit eine Beschaffenheit vertraglich nicht vereinbart wurde, muss sich das Gewerk für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignen (§ 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BGB – 2. Sachmangelvariante),
- ansonsten für die gewöhnliche Verwendung eignen und eine Beschaffenheit aufweisen, die bei Werken der gleichen Art üblich ist und die der Besteller nach der Art der Leistung erwarten kann (§ 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB – 3. Sachmangelvariante).
Die Werkleistungspflicht ist dabei stets erfolgsbezogen zu betrachten. Der werkvertraglich geschuldete Erfolg bestimmt sich nicht allein nach der zu seiner Erreichung vereinbarten Leistung oder Ausführungsart, sondern auch danach, welche Funktion das Werk nach dem Willen der Parteien erfüllen soll. Ist die Funktionstauglichkeit für den vertraglich vorausgesetzten oder gewöhnlichen Gebrauch vereinbart und ist dieser Erfolg mit der vertraglich vereinbarten Leistung oder Ausführungsart nicht zu erreichen, schuldet der Unternehmer nach ständiger Rechtsprechung des BGH dennoch die vereinbarte Funktionstauglichkeit. M.a.W.: Die Werkleistung muss dauerhaft gebrauchs- und funktionstauglich sein, um mangelfrei zu sein. - Weiterhin muss die Werkleistung – auch wenn dies im Unterschied zu § 13 Abs. 1 Satz 2 VOB/B nicht ausdrücklich im Wortlaut von § 633 Abs. 2 BGB erwähnt wird – auf allen vorgenannten Stufen zumindest auch den »allgemein anerkannten Regeln der Technik« (stillschweigend vereinbarter Mindeststandard) entsprechen (gleichsam 4. Sachmangelvariante).
Die zuvor dargestellten Sachmangelkriterien sind nicht alternativ, sondern kumulativ anzuwenden. § 633 Abs. 2 BGB ist – entgegen seines missverständlichen Wortlauts – im Hinblick auf die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie richtlinienkonform (kumulative Geltung der Sachmangelkriterien) auszulegen, um zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen.
II. Allgemein anerkannte Regeln der (Bau-)Technik
1. (Gesetzliche) Verortung
Vor allem innerhalb der gewöhnlichen Verwendungseignung (§ 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB) sind die allgemein anerkannten Regeln der Technik von erheblicher Bedeutung. Dieser Standard ist in der Regel vom Bauunternehmer einzuhalten, soweit dadurch die geschuldete Gebrauchstauglichkeit gewährleistet wird.
Damit wird deutlich, dass der für die Bestimmung der Mangelhaftigkeit maßgebliche (Mindest-)Standard die allgemein anerkannten Regeln der Technik sind. Dies wird für den VOB-Werkvertrag ausdrücklich in § 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 VOB/B sowie in § 13 Abs. 1 Satz 2 VOB/B geregelt. Das gilt aber ebenso für den BGB-Werkvertrag. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sichert der Bauunternehmer beim Vertragsschluss stillschweigend zumindest das Einhalten der allgemein anerkannten Regeln der (Bau-)Technik zu.
Dieser vom BGH aufgestellte Grundsatz folgt letztlich aus der Überlegung, dass der Bauunternehmer eine besondere Fachkunde in seinem Tätigkeitsbereich besitzt, auf die der Bauherr vertrauen kann und darf. Aufgrund dieser (stillschweigend) zugrunde gelegten Kenntnis des Bauunternehmers hat der Bauherr (zumindest) einen Anspruch auf Beachtung der in der Baupraxis bekannten und bewährten Vorgehensweisen – also der allgemein anerkannten Regeln der Technik. Diesen Standard hat der Bauunternehmer zum Zeitpunkt der Abnahme einzuhalten (maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt).
Dass die allgemein anerkannten Regeln der Technik erst nach der Überprüfung der vertraglich vereinbarten Beschaffenheit zu beachten sind, ergibt sich schon daraus, dass die Parteien im Rahmen einer solchen Vereinbarung qualitativ höherwertige Anforderungen als diejenigen der allgemein anerkannten Regeln der Technik zugrunde legen können. Sie können z.B. die Geltung des (höherwertigen) »Standes der Technik« vereinbaren. Sollte dies der Fall sein, ist klar, dass selbst beim Erfüllen der allgemein anerkannten Regeln der Technik ein Mangel vorliegt, weil die erhöhten vertraglichen Anforderungen nicht eingehalten werden.
Beispiel: Die Ausführung einer Parkhausdecke in einer geringeren als der vertraglich vereinbarten Betongüte (Güteklasse C 20/25 [alte Bezeichnung: B 25] statt C 30/37 [alte Bezeichnung: B 35]) reicht für die geplanten Nutzlastfälle (noch) aus. Bei Verwendung der vertraglich vereinbarten Betonqualität (C 30/37) wäre aber eine noch höhere Tragfähigkeit, Haltbarkeit und Nutzungsdauer erreicht worden. Auch wenn mit der tatsächlichen Bauausführung die statischen Anforderungen nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik (noch) eingehalten worden sind, folgt ein Mangel bereits daraus, dass der Bauherr einen Anspruch auf eine höherwertigere Ausführung hatte, die nicht eingehalten wurde. Die »Ist-Beschaffenheit« weicht im Beispielsfall also negativ von der vertraglich vereinbarten »Soll-Beschaffenheit« ab.
Sollte eine Beschaffenheit vertraglich nicht speziell vereinbart worden sein, ist zu prüfen, ob sich die Bauleistung für die nach dem Vertrag vorausgesetzte bzw. die gewöhnliche Verwendung eignet und ob insofern die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden.
Zwischenfazit: Der Bauunternehmer hat primär die vertraglich vereinbarte Beschaffenheit – einschließlich der vereinbarten Funktionstauglichkeit – einzuhalten. Sollte sein Gewerk in technischer Hinsicht mangelfrei sein, jedoch nicht dem Vertragsinhalt entsprechen, liegt gleichwohl ein Mangel vor. Insofern kommt es auf die allgemein anerkannten Regeln der Technik (noch) nicht an.
Den ganzen Beitrag können Sie in der Februar-Ausgabe von »Der Bausachverständige« lesen.
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