BauSV 3/2022

Abb. 1: Streitgegenständliche Treppe mit kritischer Stufe Nr. 4

Ingo Kern


Kein Treppenwitz

– eine sichere Treppe braucht mehr als ein Geländer


Einem Rechtsstreit über die Lauflinie und Auftrittsbreiten einer gewendelten notwendigen Treppe in einem Mehrfamilienwohnhaus war ein Treppensturz vorausgegangen. Gestritten wurde über eine
»normgerechte« Planung. Ob der Mangel vermeidbar, verschuldet, furchtbar, schwer oder von allem das Gegenteil ist, sollte der Prozess klären.


Treppensteigen ist von Kindesbeinen an gelernt. Es entsteht ein eingespielter Bewegungsrhythmus, der auf die Treppenparameter eingestellt ist. Der automatisierte Ablauf bedeutet für die treppensteigende Person eine psychische Entlastung. Das ist jedoch anders, wenn Stufen in einem spitzen Winkel oder in engen Radien verlaufen.

Die Unfallforschung untersucht laufend die Unfall- und Todeszahlen auf Treppen. Die Zahlen sind wortwörtlich bestürzend: In Deutschland verunglücken jährlich rund 561.000 Personen privat und 46.000 beruflich auf Treppen. Es sterben mehr Menschen auf Treppen als auf Straßen.

In der gerichtlichen Auseinandersetzung war es auf einer Treppe zu einem Sturz gekommen. Der Beweisbeschluss befasste sich mit der Behauptung, dass die Treppenstufen keine nach Norm ausreichende Tiefe von mindestens 26 cm aufwiesen und nicht sicher begehbar seien. Der Beklagte wehrte sich vehement mit dem Argument, die Treppe wäre mit einem speziellen Treppen-Computer-Programm geplant worden.

Die planende Intelligenz sei so ausgetüftelt, dass sie die Vorgaben der DIN 18065 automatisch berücksichtige. Ein quasi größter gemeinsamer Nenner, auf den sich angeblich alle einigen und dem sie, wann immer es geht, gemeinsam die ganze Güte des Herzens und die Fürsorge des Lebens schwören.

Illustriert wurde das durch eine penetrant dominierende Verwendung des Vokabulars der Gemeinsamkeit, die DIN-Norm. Trotzdem kam es bei der streitgegenständlichen Treppe im Bereich der Stufe 4 zum Sturz. Die notwendige Treppe wurde von den Bewohnern außerdem als unsicher und unbequem wahrgenommen. 

Im Zuge des gerichtlichen Verfahrens wurde die Treppe vor Ort aufgenommen und nachträglich digitalisiert. Das Planungsprogramm generierte die Treppe zunächst detailgetreu nach DIN 18065 mit fünf verzogenen Stufen, sodass die Regel zur Beschränkung der Wendelstufen-Anzahl 3,5 x a den normativen Anforderungen entsprach (s. Abbildung 2).

Das Programm und die Realität spiegelten in diesem Punkt die Norm formal wider. Sie befriedigte die DIN 18065; Schrittmaß, Mindestauftritt, Radien und die Auftritte an der schmalsten Stelle waren entlang der Lauflinie innerhalb der zulässigen Grenzen. Dennoch wurde die Stufe 4 als unsicher empfunden.

Der Software-Anwender hatte sich entschlossen, das Programm werde es schon hinkriegen, die Norm in ein künftiges Treppenloch hineinzukopieren. Das klingt einfach, ist es aber nicht: Menschen sind keine Maschinen, die alle gleich funktionieren. Schon die Abgrenzung zwischen Nutzungsanforderungen – behindert und hochbetagt, jung und frisch, abgelenkt, eilig oder unvorsichtig – ist oft schwierig.

Die Sache mit der Benachteiligung aufgrund des Ungleichseins ist ja, wie wir wissen, heutzutage eine der Hauptschicksalsfragen, also erstens wichtig und zweitens allgegenwärtig. Die Möglichkeiten, Ermessensspielräume auszuschöpfen oder die Verziehungsregel anzupassen, vermochte der Normanwender nicht. Das ist dann aber selten das Ende der Geschichte.


Erkennen der Tatsachen

Ursache ist, dass der Auftritt a an einer Gehlinie gemessen wird, die unter einem relativ spitzen Winkel zur Stufenachse der Stufe 4 verläuft. Die DIN 18065 wird hier formal befriedigt. Das Begehen der Treppe ist jedoch nicht ungefährlich. Neben der Standsicherheit muss die Treppe so gestaltet sein, dass ein sicheres Begehen möglich ist.

Eine Grundregel dafür ist die Einhaltung des Schrittmaßes, das sich aus der Steigung s und dem Auftritt a ableitet. Das Schrittmaß der Treppe beträgt hier 634 mm (2 x 187 + 260) – eigentlich ein Idealmaß.

Die zweite wichtige Regel, dass im geradeläufigen Bereich des inneren Treppenlaufes aus der Wendelung heraus gewendelte Stufen nur bis zu einer Länge von 3,5 x a angeordnet werden sollen, war ebenso eingehalten. Diese Regel verhindert die Konstruktion von gewendelten Treppen mit einer konstanten Breite der Stufen an der Freiseite, wie in Abbildung 3 dargestellt.

Auf diesen mit einer konstanten Breite eingebauten Treppen ereigneten sich in der Vergangenheit eine Vielzahl von Stürzen. Ursache dafür war, dass Benutzer durch die Verziehung unbewusst gegen die Treppenraumwand hin gelenkt wurden, aus dem Tritt kamen und stürzen konnten. Dieses Konstruktionsprinzip ist seit der Normenänderung 2011 nicht mehr zulässig.

Während bis 2011 Treppen ohne die Begrenzung auf ein Maß von 3,5 x a konstruiert werden konnten (s. Abbildung 3), zeigt Abbildung 2, wie die Verziehung unter Einhaltung der aktuellen Regelung zunächst aussehen soll. Die Summe der gewendelten Stufen (Länge an der Schmalseite) liegt mit 90,8 cm innerhalb des zulässigen Rahmens von 3,5 x a = 91 cm (hier: 3,5 x 26 cm).

Damit ist eine alte Treppenbauer-Regel erfüllt, die besagt, dass nach einer Wendelung nicht mehr Stufen verzogen werden sollen, als der Treppenlauf breit ist. Die Regelung kann jedoch nicht verhindern, dass sehr schmale Stufen entstehen können. Genauer gesagt verläuft die Lauflinie auf der Stufe 4 in einem spitzen Winkel von ca. 47° gegenüber der Stufenachse, sodass dem Nutzer auf der Stufe 4 anstelle der rechnerischen Auftrittsbreite von a = 26 cm nur noch eine effektive Auftrittsbreite a = 19 cm zur Verfügung steht.

Dies führte zum Sturz beim Absteigen dieser Treppe im Bereich der Stufe 4, die vom Konstruktionsmittelpunkt (innere Wendelungsecke) weit entfernt liegt, sodass ein spitzer Winkel – die sog. Fischstufe – entsteht. Die Fischstufe hat nichts mit einer Fischtreppe zu tun. Sie ist eine besonders schlank wirkende Stufe bei gewendelten Treppen.

Bei Fischstufen handelt es sich meist um die an die Eckstufe angrenzende(n) Stufe(n) bei Verziehungsformen mit vielen Wendelstufen. Fischstufen werden auch bei korrekter Anwendung der Messregeln für den Stufenauftritt mitunter als schwierig begehbar empfunden, denn die Lauflinie liegt sehr schräg zur Stufenvorderkante und damit nicht optimal für den Treppenbenutzer. 

Wie bekannt ist, bilden zugespitzte Stufenwendelungen insbesondere beim Abwärtsgehen eine große Gefahrenquelle. Die überwiegenden Unfälle ereignen sich dann beim Abwärtsgehen in der Mehrzahl durch Abrutschen von der schmalen Stufenkante. Bei solchen Stufen kann der Fuß beim Begehen nur noch ansatzweise auftreten.

Dies ist beim Abwärtsgehen besonders kritisch, weil die Übertragung des Körpergewichts mit der vorderen Hälfte des Fußes nur bedingt möglich ist. Bei zu geringem Auftritt ragt der vordere Teil des Fußes über die Trittfläche hinaus oder der Treppenbenutzer muss ergonomisch ungünstig die Füße schräg aufsetzen. Diese Wirklichkeit wurde durch den Treppensturz bestätigt (s. Abb. 5).


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