In der Elektrotechnik genießen diverse Regelwerke das Privileg, sich nicht aus »eigener Kraft« als anerkannte Regel der Technik (a.R.d.T.) einführen zu müssen, da mit dem Griff in die Normen-Trickkiste umfänglich nachgeholfen wird. Eine Spitzenposition nimmt hierbei die DIN 18014 »Erdungsanlagen« ein! Mit einem Verweisungsgeflecht im Umfeld dieses Regelwerks wird der Eindruck erweckt, das Regelwerk hätte quasi Gesetzescharakter. Ergebene Sachverständige, Planer, Errichter und Investoren folgen jedenfalls anstandslos diesem Regelwerksgeflecht, was zu unnötigen Ressourcenverbräuchen, Fehlinvestitionen und im schlimmsten Fall auch zu Fehlfunktionen an elektrischen Betriebsmitteln und Anlagen führt.
»Der Mensch muss Erde unter den Füßen haben, sonst verdorrt ihm das Herz«, so Gertrud von Le Fort in einem Zitat. Ob dieser Ausspruch Einfluss auf die Erarbeitung vorliegender Regelwerke zur Erdung von Niederspannungsanlagen hatte, konnte vom Autor bislang nicht ausgeschlossen werden. Hinlänglich bekannt und dokumentiert ist jedoch der Hang elektrotechnischer Normenspezialisten – physikalischen Gesetzen zum Trotz – einem Mythos zu erliegen [1].
Der Baurat Friedrich Richard Ulbricht machte zur Schutzerdung (heute TT-System) bereits im Jahr 1894 darauf aufmerksam, dass »ihr Schutzwert leicht ungenügend sein könnte und die Erdung dann ein falsches Gefühl der Sicherheit hervorriefe« [2]. Im TN-System, früher Nullung genannt, wird noch heute im Ortsnetz der PEN-Leiter an möglichst vielen Stellen und zusätzlich an den Gebäuden der Anschlussnehmer mit Erdern verbunden, in der Hoffnung, die Berührungsspannung würde sich im Fehlerfall erheblich absenken.
Fachleute resümierten jedoch schon in den Fünfzigerjahren, dass sich zwar im Betriebsfall das Potenzial des PEN-Leiters dem Erdpotenzial näherte, jedoch nicht im Fehlerfall! Die Berührungsspannung wurde von den zusätzlichen Erdungsmaßnahmen kaum beeinflusst.
Diese Erder wurden daher süffisant »Dekorationserder« genannt, sie dienten nicht dem Zweck, sondern nur dem Schein [3]. So muss resümiert werden, dass die allermeisten Gebäude heute über aufwendige Erdungsanlagen verfügen, welche keinen physikalischen Zweck haben.
Physikalisch unwirksame Erdungsanlagen sind Dekorationserder!
In der DIN VDE 0100-100:2009-06 werden u.a. die Grundsätze der Systeme nach Art der Erdverbindung (Netzsysteme) definiert, welche nicht Gegenstand häufiger Änderungen durch technische Entwicklungen sind. Im TN-System ist nach Abb. 1 nur an der Stromquelle und im Verteilnetz, sofern vorhanden, die Erdung vorgesehen, an der elektrischen Anlage jedoch nicht [4].
Allgemein werden den Erdungsanlagen diverse Schutzzwecke und die Verbesserung der elektromagnetischen Verträglichkeit zugewiesen, ohne hierzu Berechnungen oder sonstige wissenschaftliche Beweise vorzulegen. Bei näherem Hinsehen stellt sich dann heraus, dass die Behauptungen der Erdungsanhänger nicht zutreffend sind, in einigen Fällen die Erdungsanlage sogar schadet. Die technischen Hintergründe hierzu sind vom Autor in [5] umfangreich aufgearbeitet worden.
In der VDE-Schriftenreihe 140 – im Hausverlag »Beuth« einem Tochterunternehmen des Deutschen Instituts für Normung e. V. zu erwerben – bestätigen die Autoren die Nutzlosigkeit der Erdungsanlagen im TN-System:
»Eine direkte Forderung nach einem Anlagenerder RA im TN-System gibt es nicht, da im TN-System definitionsgemäß nur die Stromquelle geerdet wird. Nur durch die Technischen Anschlussbedingungen der Netzbetreiber (TAB) ergibt sich eine Forderung nach einem Fundamenterder oder einem gleichwertigen Erder als Anlagenerder RA« (…) »Die Schutzmaßnahme ›automatische Abschaltung im Fehlerfall‹ würde im TN-System auch ohne Erdung wirksam bleiben, siehe Bilder 7.4.2.1 bis 7.4.2.3, Hauptsache, die Verbindung zum Neutral- oder Mittelpunkt der Stromquelle ist zuverlässig gegeben« [6].
Die Anwesenheit von Erdpotenzial kann bei diversen Fehlerkonstellationen sogar nachteilig sein. Zu lebensgefährlichen Situationen kommt es, wenn z.B. bei einem mit dem Netz verbundenen Fön in der Badewanne der Standort des Menschen außerhalb der Badewanne Erdpotenzial führt oder Badewanne bzw. Armaturen mit dem Erdpotenzial verbunden sind oder mit Erdpotenzial verbundene Objekte (z.B. Haltegriff, Elektroboiler, Waschmaschine, Trockner usw.) berührt werden.
Das vollflächige Verbinden der Stahlbetonbewehrung im Fußboden mit der Haupterdungsschiene kann so zu gefährlichen Berührungsspannungen führen, wenn ein nasser Haartrockner in der Hand gehalten wird. Wäre das Badezimmer ein isolierter Raum und ohne Objekte, die mit dem Schutzleiter bzw. Potenzialausgleichssystem verbundenen sind, könnte trotz nassem Haartrockner keine relevante Berührungsspannung entstehen [7].
Folgerichtig wurde die ursprüngliche Forderung des Einbeziehens leitfähiger Bade- und Duschwannen in den Potenzialausgleich bzw. in die Erdungsmaßnahme in 2002 (ohne große Fachdiskussion) aus der Vorschrift DIN VDE 0100-701 gestrichen [8].
Im Folgenden soll auf die Verweisungsstrategie des DIN und den weiteren mit der Normung befassten Organisationen DKE, VDE FNN eingegangen werden. Denn wo physikalisch-technische Nachweise fehlen, müssen Verweisungskonstruktionen umgesetzt werden, mit denen es gelingt, auch aberwitzigste Forderungen im Markt – mit der Brechstange – durchzusetzen.
Einige Sachverständige sowie Experten von Fachzeitschriften unterstützen diese Fehlentwicklung regelmäßig mit haarsträubenden Rechtsauskünften, indem sie der DIN 18014 sowie Regeln, die auf sie verweisen, die Attribute »bindend« und »verpflichtend« zuordnen. Auch in deren Beiträgen werden wissenschaftlich fundierte Beweisführungen vermisst.
Mit der VDEW-Richtlinie aus 1966 [9] wurde zunächst die Idee verfolgt, sowieso vorhandene Bewehrungsstähle für Erdungsanlagen heranzuziehen. Eine kostengünstige und ressourcenschonende Variante, die auf 13 DIN-A5-Seiten kurz und knapp dargestellt wurde. Die Richtlinie wurde 1994 in die DIN 18014 überführt, welche mittlerweile mit den Ausgaben 1994-02 (6 Seiten [10]), 2007-09 (23 Seiten [11]), 2014-03 (28 Seiten [12]) und schließlich 2023-06 mit 71 Seiten (!) vorliegen [13]. Die Anforderungen wurden ständig erweitert; physikalische Gründe wurden hierzu nie dargelegt [14].
Der Arbeitskreis NA 005-09-85 AA »Elektrische Anlagen in Wohngebäuden« im DIN-NABau sowie alle koalierenden Normengremien im Umfeld von Erdungsanlagen mussten jedoch am 15.06.2021 einen Rückschlag hinnehmen, als die Bundesnetzagentur mit dem »Positionspapier zur Errichtung von Erdungsanlagen in neu zu errichtenden Gebäuden« [15] dem Errichtungszwang einen Riegel vorschob:
»Keine Verpflichtung zur ausschließlichen Errichtung eines Fundamenterders. Die Beschlusskammer teilt nicht die derzeitige Formulierung in der TAR Niederspannung beziehungsweise den TAB des BDEW, welche in neu zu errichtenden Gebäuden einzig den verpflichtenden Einbau eines Fundamenterders nach DIN 18014 vorsehen. Neben Fundamenterdern gibt es andere, vergleichbare Erdungsanlagen. Ein sachlicher Grund für die Beschränkung auf Fundamenterder als einzig zulässige Erdungsanlagenform ist nicht ersichtlich und ergibt sich auch nicht aus den TAR Niederspannung beziehungsweise den TAB des BDEW selbst«.
Der BDEW reagierte ebenfalls mit einer Internetveröffentlichung, jedoch schon am 01.03.2021 [16] und empfiehlt seitdem seinen Verbandsmitgliedern / Netzbetreibern: (…) »Daher empfiehlt der BDEW evtl. Verweise auf die aktuell gültige Fassung der DIN 18014 in den Technischen Anschlussbedingungen (TAB) der Netzbetreiber nicht zu eng auszulegen. Vielmehr sollten neben dem aktuell in der DIN 18014 beschriebenen Fundamenterder auch andere Ausführungsvarianten zugelassen werden, soweit diese zur Erreichung der Schutzziele dauerhaft geeignet sind und die gleichwertige Schutzwirkung dauerhaft gewährleistet ist.«
»Daher empfiehlt der BDEW evtl. Verweise auf die aktuell gültige Fassung der DIN 18014 in den Technischen Anschlussbedingungen (TAB) der Netzbetreiber nicht zu eng auszulegen.«
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