Im Gespräch: Martin Schauer, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger der Handwerkskammer für Unterfranken im Elektrotechniker-Handwerk und elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder
Am 17.03.2022 findet die 10. Fachtagung »Der Bausachverständige« online zum Thema »Alles nach Norm? Normen und Regelwerke aus Sachverständigensicht« statt. Die Fachtagung befasst sich daher intensiv mit Normen und Regelwerken aus Sachverständigensicht.
BauSV: In Deutschland ist bekanntlich alles durch Normen geregelt und im Detail vorgeschrieben. In der Praxis der Sachverständigenarbeit als Privatgutachter oder als vom Gericht bestellter Gutachter haben Sie es immer wieder mit Normen und ihrer praktischen Anwendung zu tun.
Wenn alles geregelt ist, erleichtern Normen wie z.B. DIN-Normen so gesehen eigentlich die Erstellung von Gutachten?
Schauer: Existierte diese Idealvorstellung, dann wären Sachverständige in vielen Fällen gar nicht nötig bzw. deren Arbeit so stark vereinfacht, dass lediglich ein Soll-Ist-Abgleich zwischen einer zu bewertenden Leistung und dem anzuwendenden Regelwerk abzuarbeiten ist. Die Praxis ist jedoch eine andere. Normen können nicht alle Aspekte, Umgebungsbedingungen und sonstige Unwägbarkeiten berücksichtigen und sind daher nicht immer anwendbar.
Es kommt auch vor, dass als Konsens einer Normenarbeit ein Regelwerk im Weißdruck erscheint, welches sich im Nachhinein und unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten als nicht richtig erweist. Bei anderen Regelwerken stellt sich erst in der Praxis heraus, dass sie fehlerhaft sind.
Und schließlich führen sich immer wieder Normen nicht ein, da der Markt sie nicht annimmt oder durchschnittlich informierte Fachleute diese schlicht nicht kennen. So erreichen Regelwerke teilweise nicht den Status von anerkannten Regeln der Technik oder verlieren ihn wieder. Dies herauszuarbeiten gehört u.a. zu den Aufgaben von Sachverständigen.
BauSV: Es besteht in Gesellschaft und Justiz eine regelrechte »Normen-« und »DIN-Gläubigkeit«. Dies schlägt sich dann auch in gerichtlichen Verfahren dergestalt nieder, dass Gerichte in ihren Urteilen gerne auf die zutreffenden (fachlichen / technischen) Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen XY verweisen, ohne die im Gutachten herangezogenen Normen nochmals eigenständig zu bewerten.
Führt das in der Praxis zu sachgerechten Ergebnissen?
Schauer: Bei komplexen Fachthemen ist der Richter auf die gewissenhafte Arbeit von Sachverständigen geradezu angewiesen. Unterliegt der Sachverständige einer regelrechten Normengläubigkeit, kann kaum mit sachgerechten Ergebnissen gerechnet werden.
BauSV: Herr Schauer, auf der 10. Fachtagung »Der Bausachverständige« werden Sie zum Thema »außerparlamentarische« Normenarbeit durch ö.b.u.v. Sachverständige am Beispiel der DIN 18014 referieren. Sie vertreten dazu die These, dass erhebliche Zweifel an der Vermutungswirkung von DIN-Normen als anerkannte Regeln der Technik bestehen. Warum Zweifel? Bitte erläutern Sie uns dies.
Schauer: Das DIN wirbt mit einer sehr progressiven Strategie Vertreter aus der Wirtschaft für die Normenarbeit an und verspricht dabei einen großen Nutzen für die jeweiligen Unternehmen. Zudem ist die Normenarbeit intransparent, da die Mitwirkenden am Normungsprozess geheim gehalten werden.
Weiterhin verzichtet die Bundesregierung auf eine nachhaltige Kontrolle der Normungsprozesse. Dies zusammen hat gerade in den letzten Jahren dazu geführt, dass einigen Regelwerksergebnissen ein »Geschmäckle« anhängt. Das führt zu Zweifeln!
BauSV: Ist die Vermutungswirkung zu DIN-Regelwerken also überhaupt noch anwendbar?
Schauer: Die Vermutungswirkung zu DIN-Regelwerken hat bei einigen Sachverständigen dazu geführt, solche Regelwerke völlig unreflektiert anzuwenden. Diese Vermutungswirkung ist jedoch widerlegbar und dies ist eine Aufgabe für Sachverständige, für wen sonst?
Wenn die Rechtsprechung mit den DIN-Normen eine Vermutungswirkung verbindet, geschieht dies mit der Unterstellung, dass alle Normenprozesse gemäß dem Vertrag zwischen dem DIN und der Bundesrepublik Deutschland und der DIN 820 – Normengrundsätze – abgearbeitet werden.
Würde festgestellt werden, dass eine Norm z.B. nicht zum Nutzen der Allgemeinheit, nicht widerspruchsfrei ist bzw. im Widerspruch zu einer europäischen Norm existiert, müsste dies zwangläufig dazu führen, dass die Vermutungswirkung nicht mehr anwendbar ist.
BauSV: Sollten sich Sachverständige also stärker in die Normenarbeit einbringen, um die Qualität von Normen für die tägliche Sachverständigenpraxis zu verbessern?
Schauer: Ich bin zum Entschluss gekommen, dass sich gerade ö.b.u.v. Sachverständige nicht in die Normenarbeit einbringen sollten. Denn diese Mitarbeit könnte zu folgenden Nachteilen führen:
- Die Mitwirkung kann Fragen bezüglich der Neutralität aufwerfen; schließlich besteht der Anspruch an solche Mitwirkende an Normungsverfahren, dass sie die Normen in einem positiven Licht nach außen darstellen.
- Die Mitwirkung an Normungsverfahren kann einen Befangenheitsgrund darstellen, da angenommen werden kann, dass der Sachverständige sich nicht mehr unvoreingenommen mit der Sache beschäftigen kann.
Der Vorsitzende der Bundesfachgruppe im BVS Elektrotechnik und Informationstechnik Dr. Stiemerling hat einen beachtenswerten Vorschlag gemacht: Sachverständige sollten für die Bundesregierung als Berichterstatter fungieren und den Normenprozess begleiten und die Fach-Ministerien unter Gesichtspunkten wie Umsetzbarkeit, Nutzen für die Allgemeinheit und Kostenfolgen beraten. In dieser Rolle könnten Sachverständige ihre Neutralität bewahren, die Qualität von Normen verbessern und negative Auswirkungen auf die Allgemeinheit minieren.
BauSV: Wie lautet Ihre Praxisempfehlung an Sachverständige zum Umgang mit Normen in Gutachten?
Schauer: Wir Sachverständige nehmen in einem hohen Maß an der Wahrheitsfindung in unserer Gesellschaft teil. Dessen sollten wir uns immer bewusst werden. Jedes Regelwerk ist Abschnitt für Abschnitt daraufhin zu prüfen, ob die jeweilige Aussage und Forderung den anerkannten Regeln der Technik entspricht bzw. ob das Regelwerk überhaupt anwendbar ist
BauSV: Herr Schauer, vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person
Martin Schauer ist öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger der Handwerkskammer für Unterfranken im Elektrotechniker-Handwerk und elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder und Beirat der Fachzeitschrift »Der Bausachverständige«.
Kontakt
Martin Schauer
Gertrud-von-le-Fort-Str. 8
97074 Würzburg
Telefon: 0931-70288-0
Telefax: 0931-70288-29
E-Mail: mail@sv-schauer.de
Internet: www.sv-schauer.de