Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) bringen im Rahmen des DGF-Schwerpunktprogramms SPP 100+ einer Künstlichen Intelligenz bei, Fahrzeuge anhand der von ihnen erzeugten Schwingungen zu erkennen. Damit wird erstmals die Belastung einer Brücke durch Verkehr erfassbar gemacht und perspektivisch die Vorhersage von Schäden möglich.
Ziel ist es u.a., neue Methoden des Structural-Health-Monitoring zu erforschen, die die Lebensdauer von Brücken verlängern und gleichzeitig deren Sicherheit gewährleisten. Ein Teil der Forschung wird an der Nibelungenbrücke in Worms durchgeführt – einem Denkmal deutscher Ingenieurskunst, dessen Restnutzungsdauer mit modernsten Methoden neu bestimmt wird.
Der Programmtitel »SPP 100+« steht für das angestrebte Lebensalter von Brücken. Damit Brücken sicher altern, forschen BAM-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler zusammen mit mehreren deutschen Universitäten an einer neuen Art der Zustandsbeurteilung. Die Daten aller SPP-Projekte fließen in einen sogenannten digitalen Zwilling der Nibelungenbrücke ein – eine digitale Nachbildung, die eine Echtzeitauswertung sowie Prognosen über Schäden und notwendige Ertüchtigungen erlaubt.
Dabei wird berücksichtigt, dass Brücken hochkomplexe und vor allem individuelle Bauwerke mit sehr langer Lebensdauer sind. An die Bewertung ihrer Funktionstüchtigkeit können bisher geltende standardisierte Maßstäbe nicht immer angelegt werden. Außerdem sind Veränderungen an diesen Bauwerken schwer zu messen, weil sie sehr langsam und kaum sichtbar voranschreiten.
Im Rahmen des Projekts werden auch die Schwingungen durch den Verkehr auf der Brücke erfasst und diese Daten von einer Künstlichen Intelligenz ausgewertet. Intelligente Beschleunigungssensoren liefern Informationen darüber, wie viele Fahrzeuge täglich die Brücke passieren, welcher Typ Fahrzeug in welcher Anzahl vorkommt und – vor allem – wie stark die dabei erzeugten Schwingungen sind. Denn insbesondere die Schwingungen schwerer LKWs stellen einen Belastungsaspekt dar und wirken sich auf Tragverhalten und Integrität der Brücke aus.
Die KI lernt, Fahrzeuge anhand der von ihnen ausgelösten Schwingungen zu erkennen und außerdem, Daten verschiedener Beschleunigungssensoren zu kombinieren und Lücken zu schließen. Denn die Sensoren des BAM-Projekts sind nicht die einzigen, die Daten über den Zustand der Brücke liefern. »Verschiedene fest installierte Sensoren messen an unterschiedlichen Stellen, zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlicher Frequenz«, erläutert Ralf Herrmann, Leiter des Projekts.
»Diese Datensets aufeinander abzubilden und ein kohärentes Ergebnis zu erhalten, muss die KI erst lernen. Wenn etwa für einen Zeitraum ein Set Messungen zur Verfügung steht und für einen anderen Zeitraum das Set eines anderen Sensors, dann soll die KI trotzdem sagen können, welche Fahrzeuge wann über die Brücke gefahren sind und welche Belastungen sie ausgelöst haben.« Die Forscherinnen und Forscher der BAM nutzen dabei das Prinzip des Deep Transfer Learnings. Dabei werden KI-Modelle an allgemeinen Daten trainiert, um sie dann für konkrete Anwendungsfälle zu nutzen, für die weniger Daten zur Verfügung stehen.
Von der Nibelungenbrücke wird mit den Daten aller SPP-Projekte ein digitaler Zwilling erstellt, der über ihre gesamte verbleibende Lebensdauer mit Echtzeitdaten gefüttert werden soll. Sie war die erste Rheinquerung im freien Vorbau mit Spannweiten von über 100 Metern und wurde 1953 fertiggestellt. Ursprünglich wurde ihre Restnutzungszeit auf 2028 datiert. Mithilfe der neuen Methoden und den sich daraus ableitenden Instandhaltungsmaßnahmen soll sie länger sicher in Betrieb bleiben.
Perspektivisch soll die Grundlagenforschung des Schwerpunktprogramms SPP 100+ auch auf andere Bauwerke angewendet werden. So könnten Structural-Health-Monitoring-Anwendungen an Brücken individualisiert und vor allem ältere Brücken besser überwacht, rechtzeitig repariert und insgesamt länger in Betrieb bleiben.